NS-Familien-Geschichte

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Je tiefer ich grabe, desto grauenhafter wird es.

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich am Ufer des Flüsschens Ubaye in den provenzalischen Alpen, flussaufwärts der Kleinstadt Barcelonnette. Der Ubaye ist ein rauschender kleiner Wildfluss, die D 900 folgt ihrem Lauf und später einem ihrer Zuflüsse. Auf der Passhöhe des Col de Larche (italienisch: Colle della Maddalene) erreicht sie an der Grenze zu Italien eine Höhe von 1996 Metern um als SS 21 wieder herabzuklettern bis in die Stadt Cuneo in Piemont am südwestlichen Rand der Po-Ebene. Es ist vor der französischen Reisezeit und einen schöneren Ort für den perfekten Abend kann man sich kaum wünschen.

Man nimmt gerne kleine Erinnerungsstücke an solche Plätze mit, um sich später an diesen Ort zurück zu träumen. Schnappschüsse komplettieren die Erinnerung – und wer weiß, vielleicht kommt man eines Tages wieder am gleichen Platz vorbei.

Von meinem Halbonkel Walter Laich blieben neben zwei Kisten Feldpostbriefen, einem Fotoalbum und einigen Rollen Foto-Negativen auch diese Muschel und Seifenschale erhalten. Walter war ab Anfang Mai 1941 als Besatzungssoldat in Frankreich. Beide Erinnerungsstücke stammen vermutlich von der Normandieküste in der Gegend von Saint-Malo oder vom Atlantik, wo er später war, irgendwo zwischen Nantes und der nördlichen Pyrenäenregion. Mit seinen Soldatenkameraden badete er an der Kanalküste und hielt diese ausgelassenen Momente mit seiner Kamera fest. Ganz so, als würde er sich auf einer Urlaubsreise befinden.

Während sich Walter in den Wellen bei Saint-Malo vergnügte, waren andere Teile der Wehrmacht in Frankreich beteiligt an der Jagd auf Menschen, die von den deutschen Besatzern als Juden definiert und verfolgt wurden.

Walter war 1941 bis 1943 als gelernter Geometer in einer Vermessungsabteilung der Wehrmacht. Zeitweise bezog er ein Privatquartier, so im Städtchen Etauliers im Westen Frankreichs. Dort wohnte er zwei Monate bei einer Familie, half bei Hausschlachtungen und fühlte sich wohl. Ende 1943, Anfang 1944 schrieb er: „...da wo wir waren, da dürfen wir uns immer sehen lassen und diese Leute, die waren sehr freundlich und ich war dort, als gehörte ich zur Familie“ und sogar von seiner „zweiten Heimat“.

Anfang Februar 1944 wurde Walter in eine neu aufgestellte Einheit, dem Sicherungsregiment 1000 ins zentralfranzösische Montargis verlegt. Ursprünglich wurde diese hochmobile Truppe nach Aussage eines Führungsoffiziers aufgestellt, um gegen befürchtete alliierte Fallschirmeinheiten vorzugehen.
Tatsächlich wurde sie aber bereits im April 1944 in die Division Brehmer eingegliedert. Diese führte zwischen dem 23. März und Mitte April (die Angaben zum Endzeitpunkt schwanken) die „Aktion Brehmer“ durch, mit dem Ziel „Repression und Vernichtung von Maquisards und Juden in den Departements Dordogne, Corrèze und Haute-Vienne“. (Übersetzung der frz. Wikipedia zu Walter Brehmer: „...destinée à la répression et à l’anéantissement des maquisards et des juifs en Dordogne, Corrèze et Haute-Vienne qui sévit du 26 mars au 16 avril 1944.“; Weiterer Link: dt. Wikipedia zu Walter Brehmer.) In dieser Division gingen Wehrmachtsteile, darunter Walters Sicherungsregiment 1000, Seite an Seite mit SS, Gestapo und SD und mit allen Mitteln gegen die zunehmend stärker werdende Résistance vor. Ganze Landstriche Zentralfrankreichs wurden durchkämmt, Dörfer niedergebrannt. Kämpferinnen und Kämpfer der Résistance, viele Zivilistinnen und Zivilisten wurden kurzerhand erschossen, ebenso alle Jüdinnen und Juden, die sie aufspüren.
Im Mai 1944 wurde das Sicherungsregiment 1000 in die Brigade Jesser eingegliedert, die ebenso blutig durch weite Landstriche Zentralfrankreichs zog.

Im „Musée de la Résistance, de l’Internement et de la Déportation“ in Clermont-Ferrand befinden sich einmalige Fotos, die das Sicherungsregiment 1000 bei Einsätzen und Durchkämmungen zeigen. Diese Fotos wurden von deutschen Soldaten aufgenommen und fielen später offenbar der Résistance in die Hände. Walter konnten wir auf diesen Fotos nicht erkennen.

Im Sommer 2015 bereisten wir das Zentralmassiv, die Auvergne, das Cantal, den Gard und die Cevennen, um einen ersten Überblick über Walters Operationsgebiet im Sommer 1944 zu bekommen. Dabei kamen wir oft und unvermittelt an Gedenksteinen und -stelen vorbei, mal auf einer kleinen Bergstraße mitten im Wald, mal in einer kleinen Stadt im Tal. Sie erzählen von den harten Kämpfen der Résistance und der FFI, den „Forces françaises de l’intérieur“ (das sind die neugebildeten „Französische Streitkräfte im Inneren“) gegen die deutschen Besatzer. Und von den brutalen Vergeltungsaktionen der deutschen Faschisten.

Vor dieser Reise konnte ich mir kaum vorstellen, was „den Maquis“ ausmacht, wie das Leben und der Kampf dort konkret aussahen. Vor Ort wurde es mir dann sehr schnell bildhaft vorstellbar. Die ländliche Gegend des Zentralmassivs, mal anmutige Kulturlandschaft, mal rauh, wild und menschenleer, zeigte sich mir als idealer Landstrich, um mit einem in der positivsten Deutung sinnlosen, in der Realität aber fanatischen Kampf für das Herrenmenschen-Paradigma zu brechen. Und tatsächlich desertierten Tausende Wehrmachtssoldaten in Frankreich – nicht aber mein Halbonkel. Die grandiose Landschaft vor Augen, kamen mir Walters Sätze in einem seiner Briefe wieder in Erinnerung: „…den faulen Franzosen, den Tagdieben, denen wächst das Zeug im Schlaf, deshalb können sie ja auch faul sein“ (Mai 1944). Wie fanatisch verblendet muss man sein, um als Sohn einer Familie, die seit Generationen eine kleine Landwirtschaft im Nebenerwerb betrieb, nicht die große Leistung der landwirtschaftlich geprägten Menschen der Region zu erkennen, die zu unterjochen er mithalf?

Immer wieder stießen mich die Gedenksteine und Monumente auf den fanatischen und sehr gewalttätigen Terror, den die Brigade Jesser und auch Walters Sicherungsregiment 1000 dort verbreiteten. Mir bleibt es unverständlich, was Walter damals empfunden haben mag. Er hatte Sprachkenntnisse, fühlte sich zeitweise in einer „zweiten Heimat“ mit Familienanschluss. Dies und auch seine „Urlaubsfotos“ und „Souvenirs“ stehen für mich in unauflösbaren Widerspruch zu seinen Taten im Jahr 1944.

Mir fiel es auf dieser Reise oft schwer auszuhalten, dass ein naher Verwandter daran beteiligt war. Der Widerspruch zwischen der Brutalität der Faschisten und meinen eigenen Empfindungen dort vor Ort machten mich immer wieder wütend und mir fehlten oft die Worte für diese Gefühle. Meine neueren Erkenntnisse zur Divison Brehmer, ein Jahr nach der Reise, lassen neben Empörung nun auch Ekel aufsteigen. Je tiefer ich grabe, desto grauenhafter wird es.

Letztlich führte sein Fanatismus auch ihn selbst ins Verderben. In den letzten Augusttagen begann für das Sicherungsregiment 1000 in Clermont-Ferrand ein schneller und verlustreicher Rückzug. So fand sich Walter im Dezember in Sigolsheim bei Colmar wieder. Dass er den Weg bis dorthin überlebte, grenzt an ein Wunder. Der größte Teil seiner Einheit war zu diesem Zeitpunkt bereits aufgerieben. Nun eilte Himmler als neuer „Oberbefehlshaber Oberrhein“ nach Colmar, um dort einen wahnhaften und von vornherein zum Scheitern verurteilten Befehl zur Wende des Kriegsgeschicks an der Westfront durchzusetzen, parallel zur ebenso sinnlosen Ardennenoffensive. So führte auch Walter mit der Panzerfaust einen erbitterten Kampf um jede Hausruine. Einen Kampf, für den von Himmler nur Tote vorgesehen waren. Am 27.12.1944, dem Tag der endgültigen Befreiung Sigolsheims, verlor er seinen letzten Kampf. Zuletzt wurde er schwerverletzt auf einer Trage gesehen, seine Spur verliert sich in der erbitterten Schlacht. Anders als Walter sind laut Bericht des deutschen Kommandanten des Ortes Dutzende Wehrmachtssoldaten an diesem Tag in Panik geflohen – Walter aber wollte gegen eine erdrückende Übermacht siegen.

 

 

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